Sonntag, 3. Dezember 2023

Den Sinn ändern

peccavimus et facti sumus tamquam immundus nos
et cecidimus quasi folium universi
et iniquitates nostrae quasi ventus abstulerunt nos

Wir haben gesündigt und sind Unreine geworden,
Wie ein Blatt sind wir alle gefallen,
Und unsere Missetaten haben uns fortgetragen wie der Wind

Aus dem Adventsgesang Rorate Caeli, nach Jesaja 64,6

Die poetischen Bilder dieses Klagegesanges, die vom Propheten Jesaja stammen, laden zu einer näheren Betrachtung ein, denn sie umschreiben unsere irdische Verfaßtheit.

Zentraler Gedanke ist die Feststellung, daß wir gewissermaßen “nicht in der Ordnung leben” - und damit nicht "in Ordnung sind". Das kann der Anfang einer tiefgreifenden Sinnesänderung werden.

Wir sind gefallen wie ein Blatt. - Ein Blatt fällt langsam immer tiefer, wobei es in einer ziellos schwingenden Bewegung mal in diese, mal in jene Richtung wandert. Der leiseste Wind kann es ergreifen und mit sich nehmen, bevor er das Interesse an ihm verliert und es wieder in seinen eigenen Fall entläßt. Die horizontalen Bewegungen erregen zwar die Aufmerksamkeit - bei allem aber bleibt eines sicher: der stete Fall, die Abwärtsbewegung.

So ist es auch mit uns. Wir lassen uns forttragen, wähnen uns vielleicht sogar in zielgerichteter Eigenbewegung, aber wir haben in Wahrheit keinen festen Halt. Und ohne den ist nur eines sicher: daß es immer weiter bergab geht mit uns. Womit ich nicht den unausweichlichen Verfall des Leibes meine, sondern vor allem und in erster Linie den Verfall der Seele.

Dabei haben wir, anders als das Blatt, tief in uns die Sehnsucht, in der Ordnung zu sein. Der Fall ist nur die Folge einer aktiven Verdrängung dieser Sehnsucht. Das ist der Grund, daß die Strophe aus dem Rorate-Gesang mit dem Wort peccavimus beginnt - wir haben gesündigt. Aktiv Perfekt - Ursache des Falls ist eine aktive innere Abwendung, eine Verdrängung dessen, was das Gute und Richtige gewesen wäre, die zu unserer Vorgeschichte gehört. Das zieht die Krankheit des Aussatzes nach sich - das Seelenkleid wird fleckig und häßlich, denn die eigene Kraft ist nicht stark genug, um es rein zu erhalten. Schließlich erlischt das innere, übernatürliche Leben der Seele vollständig.

Eine typische, von der Gesellschaft einprogrammierte Reaktion auf solche Gedanken ist: “Hört auf mit diesem Gerede von Schuld und Sünde - laßt uns doch positive Gedanken pflegen, laß es uns einfach gut miteinander haben!” Denn das Thema Schuld und Sünde gehört zu den unbeliebten Teilen der Religion. Religion wird geduldet, wenn sie das sogenannte “selbstbestimmte Leben” nicht besonders stört, wenn sie der spirituellen Erbauung dient und dem einzelnen einen Sinn gibt - aber nicht wenn sie mahnt und warnt, zu Buße und Gebet aufruft.

Das Bewußtsein von der Sündhaftigkeit - und damit eng verknüpft: die Sehnsucht, wieder in der Ordnung zu sein - ist kein Sondergut der christlichen Religion, sondern etwas allgemein Menschliches, das in unsere Seelen gelegt ist. Viele Kulturen legen davon Zeugnis ab. Die alten Ägypter strebten beispielsweise besonders danach, in der Ma’at zu leben - im Frieden und in der Ordnung mit den Göttern und den Menschen; das zugrundeliegende Verb ma’a heißt soviel wie “richten” oder “lenken”. Auf einer USA-Reise erfuhr ich einmal, daß das Wichtigste im Leben eines Navajo-Indianers etwas war, das er Hózhó nannte - was soviel wie Schönheit, Harmonie oder Ordnung heißt. Eine Sehnsucht nach diesem Zustand kann aber nur entstehen, wenn man bemerkt, daß man noch nicht (oder: nicht mehr) in ihm ist.

Aber die Ursache für das Leben außerhalb der Ordnung liegt allein in unserem Willen. Wir selbst sind dafür verantwortlich. Zum Begriff der Sünde (die mit "Absonderung" wortverwandt ist) gehört das Selbstverschuldete, der selbstgewählte Akt des Sich-Verschließens. Wir verschließen Augen und Ohren für die Quelle, von der her alles wieder gerichtet werden könnte.

Nebenbei: es ist nicht nur für den einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft als Ganzes das Beste, in dieser Ordnung zu sein. Die Sehnsucht des einzelnen, sich selbst auf diese Ordnung hin auszurichten, geht in Harmonie mit dem richtigen Leben unter den Mitmenschen. Letzteres - der richtige Umgang mit den Mitmenschen - fließt aus der Quelle, ohne selbst die Quelle zu sein, als bloße Wirkung. Dies könnte zu anderer Gelegenheit näher betrachtet werden.

An den Umkehrpunkten der Hin- und Herbewegungen des Blattes merken wir selbst, daß die Richtung nicht stimmt. Wir geraten in eine Lebenskrise und suchen nach neuen Wegen. Beispielsweise bemerken wir eine zunehmende Trockenheit oder Leere, wenn wir in der bisherigen Richtung weitergehen würden, oder wir spüren, daß dieser Weg nicht die erhoffte Erfüllung bringen wird. Eine Verheißung, die am Anfang stand, erweist sich als trügerisch. Oder wir sind so tief verstrickt in einen falschen Weg, die Konsequenzen treffen uns so deutlich und schmerzhaft, daß es uns nicht mehr möglich ist, die Augen davor zu verschließen. Dann greifen wir schnell nach einem neuen Ziel, meist ohne uns zu fragen, ob dies nun ein höherwertiges ist, oder wieder nur ein Windhauch, nur diesmal aus einer anderen Richtung, der sein Spiel mit uns treibt. Oft ist uns sogar mehr oder weniger bewußt, daß wir uns mit all dem nur zerstreuen, uns ablenken von schmerzhaften, aber wahren Einsichten.

Ein bekanntes, leicht melancholisches Herbstgedicht von Rainer Maria Rilke nimmt auch von der Beobachtung fallender Blätter seinen Ausgang:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

In diesem schicksalhaften Fallen ist Erlösung möglich durch Hinwendung zu dem, der uns auch in unserem Fallen in seinen Händen hält: Johannes der Täufer, der Wegbereiter des Herrn, predigte: “Ändert euren Sinn!” Darin liegt die Rettung: sich aus dem Hin und Her dieser Welt herauszuziehen, sich für die höheren, himmlischen Dinge zu öffnen, und sich bereit zu machen, von Christus berührt und von Grund auf verwandelt zu werden.

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