Montag, 21. Juli 2008

Die Radfigur des hl. Nikolaus

Irgendwann zwischen den Jahren 1474 und 1478 - genau lässt sich das nicht mehr feststellen - hatte der heilige Nikolaus von Flüe, der als Einsiedler im Schweizer Ranft lebte, eine erschreckende Vision. Er sah nämlich im Nachthimmel über sich "das Bild eines menschlichen Antlitzes mit schreckerregendem Gesichtsausdruck voll Zorn und Drohungen" [1]. Ihm war klar, dass dieses Antlitz voller Zorn und Macht das Antlitz Gottes war, und diese Vision hat ihn zutiefst erschüttert und aufgewühlt.

Auch andere Mystiker berichten, wie sie zu einer bestimmten Zeit ihres Lebens den "Zorn Gottes" erleben mussten. Was hat es damit auf sich?

Wenn man sich vom Getriebe der Welt etwas absondert, wie es die Einsiedler tun, verlieren auch die Masstäbe der Gesellschaft, die Normen und die Orientierung des einzelnen an diese, ihre sonst beherrschende Bedeutung. Das gilt auch für das in der Gesellschaft gelebte Gottesbild. So kann es geschehen, dass man Gott auf einmal ganz anders erlebt als man es nach den eigenen Glaubensvorstellungen für möglich gehalten hätte. Dann ist Gott plötzlich nicht mehr der liebende, gute Vater, der über den Hierarchien thront und die himmlische wie die irdische Ordnung auf so beruhigende Weise trägt und erhält. Alles, was man im Religionsunterricht über ihn gelernt hat, wird angesichts einer erschütternden Vision auf einen Schlag zur Makulatur. Ein solches Erlebnis bedeutet gerade für religiöse Menschen eine ungeheuerliche Krise, von der sie sich lange nicht erholen und kann ihre Vorstellung von Gott bis ins Mark erschüttern. So ist das eben mit einem persönlichen Gott: er ist zwar Person, aber die dichte, intensive und doch zugleich über allen menschlichen Kategorien liegende Wirklichkeit dieser Person (das Gottesantlitz) ist für Menschen fast nicht zu ertragen.

Wenn "Bruder Klaus" jedoch später seine Vision Besuchern erläuterte, legte er aus der Erinnerung eine geometische Figur über das furchtbare Antlitz, die er als Symbol des dreieinigen Gottes begriff. Hier ein alter Bericht von Bovillus:

[Das Antlitz] trug eine dreifache oder päpstliche Krone, in deren Mittelpunkt eine kleine Weltkugel eingelassen war; auf dieser Kugel war ein Kreuz befestigt. Ein dreigeteilter Bart hing ihm lang herunter. Sechs Schwertklingen ohne Handgriff schienen in wechselnder Richtung aus dem Angesicht auszugehen. Die eine ging der Stirn nach aufwärts, mit dem breiten Teil in der Stirn haftend und mit der Spitze die Kugel und das Kreuz durchdringend. Andere zwei gingen von den beiden Augen aus, die Spitzen in den Augen behaltend, während der breitere Teil auswärts ragte. Zwei brachen aus der Nase, mit dem breiteren Teil in den Nasenlöchern. Die sechste steckte die Breite nach auswärts und steckte mit der Spitze im Munde. Diese Schwerter schienen alle gleich. Diese Vision liess er in seiner Zelle malen; ich habe es gesehen und im Gemüte erfasst und in mein Gedächtnis eingezeichnet. Da mir wahrhaft die Bedeutung verborgen geblieben (wiewohl es durch seine Schreckbarkeit zu verstehen gibt, dass nicht leichte Donnerschläge die Menschheit bedrohen), so kannst du vielleicht besser deuten, was es sei... [2]

In der Pfarrkirche Sachseln wird diese Vision wie folgt dargestellt:



Was Bovillus als Schwerter ansieht, können schlichter die Speichen eines Rades gewesen sein. Andere Besucher sprechen denn auch von einem Rad mit sechs Speichen, die sich abwechselnd nach innen und nach aussen verjüngen. Das Bild dieser Vision, das er sich in seine Zelle malen liess, wurde ihm, dem des Lesens und Schreibens unkundigen Einsiedler, zu "seinem Buch", also zu einer Meditationsfigur, über die er immer wieder nachsann.[3] Die über das Gesicht gelegte Figur ist als Rad gut beschrieben: zwei konzentrische Kreise, wobei Nikolaus den inneren Kreis - die Nabe - als den Bereich Gottes ansieht, den äusseren Kreis jedoch als den des Menschen. Dazwischen verlaufen wie Dornen die sechs Speichen oder Strahlen.




Die nach aussen gehenden, sich verjüngenden Strahlen, fasst Nikolaus als freiwillige Selbstverkleinerungen Gottes auf: um für den Menschen begreifbar zu werden, verkleinert sich seine allumfassende Wirklichkeit in der Art eines Opfers, einer freiwilligen Tat, bis zu einem einzelnen Punkt. Die erste dieser Taten ist ihm die Inkarnation Gottes, in der sich Gott all seiner Macht und Grösse begibt, um ein Geringer unter den Menschen zu werden und den Weg des Leidens zu gehen. Die zweite ist ihm die Präsenz Gottes in der gewandelten Abendmahls-Hostie. Die dritte ist unser eigenes Leben, das doch "klein und zergänglich" ist [4]; so klein es auch ist, bedeutet dieser Strahl doch, dass es gottgewollt ist und eine Nadelspitze an Göttlichem, ein göttlicher Funke, in ihm enthalten ist.

Die drei einwärts gehenden Strahlen könnten, wenn man diesen Gedanken folgt, umgekehrt Taten der Hinwendung des Menschen zu Gott bedeuten. Interessanterweise belegt der Künstler, der das Radbild für die Kapelle zu Sachseln ausgestaltete, die drei einwärts gehenden Strahlen mit trinitarischen Aspekten der Gottheit: Er stellt in den drei "Medaillons", die diesen Strahlen entsprechen, die Schöpfung, die Kreuzigung und die Heilung eines Kranken dar. Was bedeutet das? Das sind drei Motive, angesichts derer der Mensch das Göttliche verehrt und selbst klein wird: Im Staunen über die Schöpfung verehrt er den Vateraspekt der Gottheit; im nachvollziehenden Miterleben von Jesu Leiden verehrt er den Sohn, und im Gewahrwerden der Wunder und des Heilwirkens Gottes den Heiligen Geist. In der gläubigen Verehrung des dreieinigen Gottes ist dem Menschen eine Orientierung zur lebendigen Mitte des Daseins möglich.

Die analytische Psychologin Marie-Luise von Franz deutet das Rad als ein Schutzbild: um nicht an der machtvolle Vision des furchtbaren Gottesantlitzes zugrundezugehen, legte Bruder Klaus über das schreckvolle Bild eine Art Bannkreis, einen versöhnenden Kreis, der es ihm ermöglichen soll, die Mitte zu wahren. Demnach wäre das Rad mit den sechs Speichen eine Hinzufügung des Unbewussten zur ursprünglichen Vision, um eine unheilvolle Auflösung der Persönlichkeit zu verhindern. Die Psychologin vergleicht die Figur mit dem tibetischen Mandala: Ein Mandala ist eine kunstvoll in konzentrischen Kreisen angelegte Figur, über die der tibetische Mönch meditiert; es ist ihm eine Hilfe, um sich seiner lebendigen Mitte zu vergewissern.

In der Tat ist die gesamte Radfigur ein Symbol der Versöhnung und Harmonie. Die inwärts und auswärts verlaufenden Speichen bilden jeweils ein Trigon, so dass sich ein Hexagramm oder Sextilstern aus zwei inander verschränkten Trigonen bildet. Dies ist ein altes jüdisches Gottessymbol (oft ist der heiligen Gottesnamen JHVH in sein inneres Sechseck gesetzt),[5a] das dem mittleren Zentrum Tiphereth im kabbalistischen Baum der Sephiroth zugeordnet ist. Tiphereth ist das Symbol der Schönheit, der Harmonie. Die Trigone selbst sind in der Astrologie der harmonischste Aspekt, sie versinnbildlichen ein freies, ungehemmtes Fliessen der lebendigen Kraft - den Flow-Zustand (im Sinne von Csikszentmihalyi [5]). Die lange und intensive Betrachtung einer solchen Figur hat sicher einen harmonisierenden, beruhigenden Einfluss auf das Gemüt.

Die Interpretation des Rades als Schutzkreis, wie sie Marie-Luise von Franz vorschlägt, wird dabei auch durch die Tatsache gestützt, dass das Hexagramm seit dem Frühmittelalter als Abwehrsymbol (Talisman) gegen Dämonen und Feuergefahr eingesetzt wurde. [6] Die Sprache der Symbole ist hier überaus eindeutig.

[1] A. Stoeckli, zitiert von M.-L. von Franz, Die Visionen des Nikolaus von Flüe, Rascher, Zürich 1959, S. 116.
[2] a.a.O., S. 117.
[3] Das Bild ist - ebenso wie die gesamte Klause - nicht erhalten, da die gesame Zelle des Nikolaus von Flüe nach einem Steinschlag zerstört wurde. Was man heute in Flüeli-Ranft sieht, ist eine Rekonstruktion der Zelle, jedoch ohne das Bild.
[4] Winfried Abel, Das Gebetbuch des heiligen Bruder Klaus, 5. Auflage, Christiana Verlag, Stein am Rhein 2004, S.7-8.
[5a] Einen schönen kulturhistorischen Abriss des Hexagramms, das als Symbol für das Judentum keineswegs auf die Antike zurückgeht und auch außerhalb des Judentums ubiquitär ist, liefert Georg Eisner in seiner kleinen Schrift Vom Hexagramm zum Davidstern.
[5] Csikszentmihalyi, Mihaly, Flow. Das Geheimnis des Glücks, 13. Auflage, Klett-Cotta 2007.
[6] Wikipedia: Davidstern, http://de.wikipedia.org/wiki/Davidstern, Zugriff am 21.3.08.

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