Freitag, 19. September 2008

Die Konstruktion der Persönlichkeit

Das Leben baut sich ein in die übergreifende Ordnung, den Kosmos. Dieser Kernsatz von Thomas Ring zum Verständnis der Astrologie abstrahiert eine Erfahrung der Biologen: Dass jede Tierart spezifische Verhaltensweisen entwickelt, um sich genau in ihre Umwelt einzufügen. Warum, so Ring, sollte dieser Grundsatz nicht für den Menschen gelten, und warum sollte die Ordnung, in die er sich einbaut, nicht auch umfassender zu verstehen sein als nur die biologische Umwelt: auch die durch unser Sonnensystem gegebenen Kräfte und Kräfteverhältnisse sind nach Ansicht der Astrologen Teil dieser übergreifenden Ordnung.

Das von Ring verwendete Verb einbauen hat einen aktiven Charakter: er hätte auch einfügen oder anpassen verwenden können. Das widerspräche aber seiner Erfahrung, dass es sich um einen schöpferischen, aktiven Vorgang handelt. Die Analogie zur Interpretation eines Musikstücks bietet sich an und wurde auch schon von Johannes Kepler ausgeführt: Die Sterne spielen auf, die sublunare Natur[= die Welt unter dem Monde, also alles, was da kreucht und fleucht] tanzt nach den Weisen ihrer Musik. Diese Auffassung von Astrologie steht im Gegensatz zu dem heteronomen, deterministischen Verständnis des "Sternenzwangs", wie es in früheren Zeiten gepflegt wurde. Auch wenn ich die Partitur bereits besitze, weiss ich nicht, wie der Flötist heute abend dieses Stück aufführen wird, wie er die Noten konkret interpretiert.

Mitten zwischen der umfassendsten Ebene des Einbauens, der astrologischen, und der untersten Ebene, der biologischen, steht der psychologische Einbau. In den ersten beiden Lebensjahrsiebten bauen wir uns unsere Persona, erstellen ein tragfähiges Konzept des Austauschs mit der Aussenwelt. Persona kommt von personare, hindurchtönen. Durch die Persona hindurch tritt der Wesenskern, das Ich, mit der Aussenwelt in Beziehung. Wie ein Mensch grundsätzlich auftritt, ob eher scheu und gehemmt oder lebenslustig und forsch, ob er sich erlaubt, seine Stimmungen auszuleben oder sich eher an die Umgebung anpasst, wie er sich in kritischen Situationen verhält, welche Situationen er meidet und welche er bevorzugt, wohin er seine Lebensenergien gern lenkt, wie stark er sich mit seiner Geschlechtsnatur verbindet - all dies und noch viel mehr war nicht bei Geburt bereits da, sondern wurde in der Kindheit und Jugend aufgebaut. Die treibende Kraft dieses Aufbaus ist der Wille zu leben - zu überleben.

Dass so viele grundlegende Eigenschaften erst in der Kindheit aufgebaut werden, bedeutet im Gegenzug nicht, dass der Mensch bei Geburt eine tabula rasa wäre: Er bringt die Partitur mit, aber mit dem Aufbau der Persona entscheidet er sich für eine bestimmte Interpretation. Diese Entscheidung ist sehr tiefgreifend - so tiefgehend, dass man geneigt ist, die Persönlichkeit für eine Konstante zu halten und sie gesamthaft mit dem eigenen Wesen gleichzusetzen.

Bei den meisten ändert sich die Persona im Laufe des weiteren Lebens wirklich nur noch wenig. Aber es gibt besondere Lebenssituationen - vielleicht ein Unfall, ein Schock, ein Drogenerlebnis, der Verlust eines geliebten Menschen oder andere Einschnitte, die gemeinhin unter dem Titel "Lebenskrisen" laufen - die dazu führen können, dass die gesamte Persona in Frage gestellt wird. In solchen Phasen grosser Sensibilität ist es besonders gut möglich, sich eine neue Persona zu erbauen.

Wer bist du? fragt die Raupe in Lewis Carroll's Alice im Wunderland. Ich weiss es nicht genau, antwortet Alice - und auf die Bitte, sich deutlicher zu erklären, fügt sie hinzu: Ich weiss, wer ich war, als ich heute morgen aufstand, aber ich glaube, dass ich mich seitdem mehrmals verändert habe.

Zweifellos ein ungewöhnliches Erlebnis: Man bemerkt, dass man nicht die Persona ist, da die Persona etwas Veränderliches, Zufälliges darstellt. Sie ist irgendwann entstanden und wird irgendwann vergehen, in seltenen Fällen schon vor dem physischen Tod - dann tritt eine andere Persona an ihre Stelle. Sie ist jedenfalls nicht das, was im inneren Forum mit dem Wort "Ich" gemeint ist. Der innere Wesenskern stellt im Vergleich etwas Dauerhaftes dar, der zwar in Worten kaum zu beschreiben ist, dafür aber sehr real erlebt wird.

In der Astrologie von Liz Greene spielt der Begriff des "Schattenthemas" eine grosse Rolle. Er bezeichnet die Beobachtung, dass ein Horoskop meist nicht ein einheitliches Ganzes darstellt, sondern in mehrere Komplexe zerfällt. Einer davon mag besonders dominant sein, während die Teile des zweiten Komplexes eher schwach gestellt sind. Es kann aber auch mehrere gleich starke Komplexe geben. Die Person kann dann einen Komplex leben und einen zweiten in den Hintergrund treten lassen. In Krisen kann sich der zweite Komplex bemerkbar machen und nach einer Bearbeitung verlangen. Es kann sogar sein, dass dann die Führungsrolle an den zweiten Komplex abgegeben wird. Die Mitmenschen erleben dann eine wundersame Veränderung der Person. Eigenschaften treten zutage, die sie vorher nie an ihr beobachtet haben, während andere Züge verschwinden.

Ein Szenenwechsel bietet diese Möglichkeit: Wer in eine neue Umgebung umzieht, in der er keinen Menschen kennt, hat besonders gute Chancen, andere Teile seiner Persona auszubilden. Denn das Bild, das andere sich von ihm gemacht haben, wird in der gewohnten Umgebung von seinen Bekannten tagtäglich auf ihn zurückgeworfen - es ist schwer, sich dieser Erwartung zu entziehen.

Die sogenannten "Multiplen", an MPS leidende Menschen, haben ein ganzes Team von Personen in ihrem Kopf, die der Reihe nach die Regie übernehmen können. Keine dieser Personen fällt mit dem "Ich" zusammen - durch jede scheint es nur durch. Während bei Nichtmultiplen eine Person fest im Sattel sitzt, stossen sich hier wechselnde Teilpersönlichkeiten vom Pferd. Am Anfang dieser seltsamen Zersplitterung steht fast immer ein sexueller Missbrauch oder extreme Vernachlässigung im Kindesalter: Der gewöhnliche Aufbau der Identität wird aufgegeben, um an den erlebten Verletzungen nicht zugrundezugehen - ein aus dem starken Überlebenswillen geborener Kunstgriff des "Haus-Erbauers" (der Kraft, die in der Kindheit unsere seelische Behausung aufbaut). Es ist wenig hilfreich, das MPS als Krankheit zu etikettieren. Besser ist schon die Frage, inwieweit die multipel organisierte Psyche dem Betroffenen in seinem jetzigen Lebensalter, in dem er nicht mehr von sexuellem Missbrauch und Misshandlung bedroht ist, noch nützlich ist. Wenn die Darstellung in Matt Ruffs Roman "Ich und die anderen" [1] realistisch ist, so entstehen die Probleme wohl vor allem durch das mangelnde Wissen der Teilpersonen voneinander, nicht durch die Teilung an sich. Eine hilfreiche Veränderung könnte darin bestehen, die Teile voneinander in Kenntnis zu setzen, so dass keine "Blackout"-Zeiten mehr erlebt werden müssen. Die Koexistenz der verschiedenen Personen wäre dann etwas, womit der Betroffene leben kann, es müsste ihm nicht notwendig ausgetrieben und durch das normale Einpersonenmodell ersetzt werden.

Das MPS macht jedoch bloss in einem Extrem offenkundig, was für uns alle gilt: Die Persona ist ein Konstrukt, ein in der Kindheit aufgebauter Komplex, der sich dem Leben als dienlich erwiesen hat. Sie ist aber nichts Absolutes. Sobald sie ihren Zweck nicht mehr erfüllt, weil gewisse Eigenschaften sich eher als störend oder lästig erweisen, während der Gesamtnutzen der eingesetzten Persona fraglich ist, kann man sie ändern! Wo etwas konstruiert wurde, besteht nämlich auch die Möglichkeit, dass sich Konstruktionsfehler eingeschlichen haben. Diese lassen sich ausbessern. Ein vollständiger Austausch durch eine neue Persona ist zwar möglich, schiesst aber in den meisten Fällen weit über das Ziel hinaus. Meistens geht es eher darum, gewisse schlummernde Teile zu erwecken und mit Aufmerksamkeit und Leben zu erfüllen. Das ist durch regelmässiges Üben möglich.

C. G. Jung definiert Persönlichkeit als eine bestimmte, widerstandsfähige und kraftbegabte seelische Ganzheit [2] - eine Definition, die eher ein Ideal beschreibt. Seelische Ganzheit bedeutet die volle Entfaltung aller Anlagen zu einem harmonischen Ganzen. Meist realisieren wir nur bestimmte Teile der Ganzheit, aber wirklich zu leben bedeutet: in Bewegung zu sein, zu wachsen, neue Aspekte unseres Seins auszuloten. Damit wachsen wir über das, was in der Kindheit erbaut wurde, hinaus und nehmen zugleich das Wichtigste des Kindseins mit: In jedem Erwachsenen steckt nämlich ein Kind, ein ewiges Kind, ein immer noch Werdendes, nie Fertiges, das beständiger Pflege, Aufmerksamkeit und Erziehung bedürfte. Das ist der Teil der menschlichen Persönlichkeit, der sich zur Ganzheit entwickeln möchte.[3]


[1] Matt Ruff, Ich und die anderen, dtv, München 2006.
[2] C. G. Jung, Vom Werden der Persönlichkeit, in: Gesammelte Werke, Band XVII, S. 193.
[3] C. G. Jung, a.a.O. Jung bezieht sich hier auf den Archetypus des "göttlichen Kindes", den er zusammen mit dem ungarischen Mythenforscher Karl Kerényi untersucht hat.

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