Montag, 30. Juli 2012

Das individuelle Streben nach Glück


Es gibt ein Geflecht von Ansichten, das sich durch ständige Wiederholung in unserem Bewusstsein einnistet. Ansichten, die wir oft unhinterfragt als wahr annehmen, obwohl wir ihnen besser mit höchster Skepsis begegnen sollten. Ansichten wie die folgenden:
  • "Der Mensch ist nichts weiter als ein Produkt der Gemeinschaft, in der und für die allein er lebt. Das meinen wir, wenn wir ihn ein Zoon politikon nennen."
  • "In diesen besonderen Zeiten müssen wir alle unsere Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft wahrnehmen und den kleinlichen Egoismus aus unserem Handeln bannen."
  • "Der Mensch glaubt nur, er könnte sich frei entschieden. In Wirklichkeit ist er das Produkt [bitte auswählen]
    der Gesellschaft
    seiner Erziehung
    seiner Gehirnströme
    seiner Gene
    seines Horoskops."
  • "Wie wir über die Welt denken, ist irrelevant. Das Denken überhaupt ist irrelevant (nur Überbau), solange es hungrige Mägen auf der Welt gibt."
Diese Ansichten haben etwas gemeinsam, sie bilden einen Typ, einen Komplex. Ein prominenter Vertreter dieses Typs ist US-Präsident Barack Hussein Obama. In einer Wahlkampfrede sagte er am 13.7.2012:
Es gibt eine Menge reicher, erfolgreicher Amerikaner, die mit mir übereinstimmen - weil sie [der Gesellschaft] etwas zurückgeben wollen. Sie wissen: sie haben es nicht gemacht [ihren Reichtum]. Sehen Sie: Wenn Sie erfolgreich sind, kamen Sie nicht aus eigener Kraft zu Ihrem Erfolg. Ich bin immer betroffen, wenn Leute glauben: "Ich bin so erfolgreich, weil ich so klug bin." - Es gibt überall hier eine Menge kluge Leute. "Es ist, weil ich so viel arbeite." - Es gibt überall hier eine Riesenmenge von schwer arbeitenden Menschen.

Wenn Sie erfolgreich waren, dann weil Ihnen jemand auf dem Weg dafür hilfreich war. Sie hatten einmal in Ihrem Leben einen grossen Lehrer. Jemand half, dieses unglaubliche amerikanische System zu erschaffen, das es Ihnen nun ermöglicht, erfolgreich zu sein. Jemand investierte in Strassen und Brücken. Wenn Sie ein Unternehmen haben: Sie waren es nicht, der es aufgebaut hat. Jemand anders hat es Ihnen ermöglicht. Das Internet ist nicht einfach so erfunden worden. Staatlich finanzierte Forschung hat das Internet geschaffen - und nun können alle Unternehmen vom Internet profitieren.[1],[2]

Einspruch, Herr Präsident! Gehen wir es einmal durch: Der erfolgreiche Unternehmer wurde durch die Hilfe eines anderen Erfolgreichen gross. Und dieser andere? Darf er sich seines Erfolges rühmen? Nein, er verdankt all seinen Erfolg wieder einem anderen, und so weiter. Konsequenterweise darf demnach keiner, der je erfolgreich war, seinen Erfolg auf seine eigene Leistung zurückführen, stolz auf seinen Erfolg sein. Was einer tut und leistet, hat er nach Obama grundsätzlich der Gesellschaft zu verdanken, in der er lebt und die ihn erfolgreich machte.

Aber "die Gesellschaft" kann überhaupt nichts machen. Alles wurde von wirklichen, konkreten Menschen gemacht, nennen wir sie die Macher – von schöpferischen, erfinderischen, unternehmerischen, ideenreichen, in irgendeiner Form produktiven Menschen der Gesellschaft, von Menschen, die etwas leisten, ihre Verantwortung erkennen und die etwas der Gemeinschaft Nützliches tun wollen. Alle Mitglieder der Gesellschaft zehren von den Werken ihrer Macher. Aber wer dem Mythos Society did it anhängt, der kann sich ein aktives, aus eigener Kraft und eigenem Willen handelndes Individuum gar nicht mehr vorstellen. Er muss es sich als einen Wahrnehmungsirrtum wegerklären. "Der Mensch kann, ja darf auf keinen Fall frei sein - er erscheint nur als frei! In Wahrheit ist er in allem, was er tut, ein Produkt der Verhältnisse, in denen er sich befindet."

Weil mich diese Themen interessieren, habe ich vor kurzem das Buch Atlas Shrugged (1957) der amerikanische Philosophin Ayn Rand gelesen. In diesem eindrucksvollen utopischen Roman malt sie aus, was passieren würde, wenn nur noch die Prediger sozialer Phrasen auf der Welt verblieben. In ihrem Buch treten die Macher in einen Streik – sie ziehen sich einer nach dem anderen aus der Gesellschaft zurück, besiedeln eine abgelegene, unauffindbare Wildnis. Sie überlassen eine Gesellschaft sich selbst, in der sie immer nur als die "Gierigen" und "Egoisten" gebrandmarkt und nach dem Belieben der Herrschenden zu immer "höheren Opfern in diesen schwierigen Zeiten" gezwungen wurden.

Wie geht es weiter? Es tritt das ein, was jedem klar ist, aber keiner auszusprechen wagt: Die Wirtschaft stagniert zunächst, erlahmt dann und bricht schliesslich zusammen. Cliquen beherrschen die Welt, sie führen dabei wohlklingende Phrasen von Brüderlichkeit und Solidarität im Munde, an die kein Mensch mehr glaubt und die nur noch notdürftig den Raub und die Zerstörung kaschieren, für die sie in Wirklichkeit stehen. Die Welt versinkt in Barbarei, die Menschen degenerieren zu Tieren, weil sie keine höheren Werte mehr anerkennen und selbst das eigene Leben für sie keinen Wert mehr darstellt, für den es sich aufzuraffen lohnt.

Ayn Rand wählte die Romanform, um ihre eigene Philosophie darzustellen, den Objektivismus - eine kraftvolle Weltanschauung, in der der "Pursuit of Happiness" radikal im Mittelpunkt aller Betrachtungen steht: das Handeln des einzelnen in eigener Verantwortung und im Vertrauen auf die eigenen Kräfte.

Ich habe nicht das Bedürfnis nach einer universellen Theorie, aus der sich alle Phänomene der Welt und darüberhinaus noch eine perfekte Ethik, Sozial- und Wirtschaftslehre ableiten liessen. Ich bezweifle sogar, dass es eine solche Theorie gibt, und auch Ayn Rand konnte mich nicht umstimmen, obwohl sie es auf eine solche totale Theorie anlegt. Verschiedene Bereiche der Wirklichkeit erfordern verschiedene, auf diese Bereiche angepasste Theorien. Man muss ja nicht nach einer "grossen Vereinheitlichung" suchen. So ist es auch mit Ayn Rand: Jede einzelne ihrer Aussagen kann ich prüfen und für richtig oder falsch befinden. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die ich ähnlich wie sie sehe. Aber auch einige, die ich völlig anders sehe.

Doch zuerst zu den Gemeinsamkeiten.

Menschen sind frei zu tun, was sie wollen

Wie Vögel Flügel als ihr Überlebensinstrument haben, so hat der Mensch einen Geist, um sich durch planvolles Handeln sein Überleben zu sichern, um sich Ziele zu setzen, um sein Handeln zu reflektieren - und überhaupt nach Ziel und Sinn zu fragen. Der Vorgang des Denkens setzt Freiheit voraus. Unsere Freiheit liegt in der Möglichkeit, verschiedene Alternativen im Geiste zu antizipieren und uns für eine von ihnen zu entscheiden. Die eigene Freiheit ist eine unmittelbare Erfahrung, die allen anderen Beobachtungen vorangeht. Menschen sind nicht wie die Tiere in eine bestimmte Lebenswelt fest eingebaut, sie sind nicht durch Instinkte bestimmt wie ein Tier, sie reagieren auch nicht nur auf den Augenblick, sondern fassen Pläne und reflektieren ihr bisheriges Verhalten.

Wenn Menschen ihre Freiheit nicht mehr wahrnehmen können oder dürfen, verkümmern sie, sind ihrer Möglichkeiten beraubt – wie Vögel, denen man die Flügel stutzt. Eine Gesellschaftsordnung, die ihre Mitglieder planmässig am freien Gebrauch ihres Geistes hindert, degradiert die Menschen zu "selbstmörderischen Tieren" (suicidal animals). Wenn man das schöpferische, selbstbestimmte Leben zu einem unerreichbaren Ideal erklärt, bleibt in ganzer Konsequenz nur der Tod, die Null - das Nichts.

Dagegen stehen in einer den Menschen bejahenden Weltauffassung das Leben, die Freiheit und das individuelle Streben nach Glück, der pursuit of happiness im Mittelpunkt. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung erklärt diese drei Dinge zu unveräusserlichen Rechten:
We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certain inalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.[3]

Ein grosses Wunder ist der Mensch

Mit dem Satz "Ein grosses Wunder ist der Mensch" beginnt der Renaissance-Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) seine berühmte Rede über die Würde des Menschen. In dieser Rede erklärt Pico, dass der Mensch aufgrund seiner Freiheit aus allen sichtbaren und unsichtbaren Ordnungen der Welt herausgestellt ist. Seine besondere Eigenschaft, die ihn gegenüber den Tieren und Pflanzen ebenso wie gegenüber den höheren Hierarchien auszeichnet, ist, dass er nicht festgelegt ist – weder in der Art noch im Ort seines Wirkens. Er kann in der Welt nach seinem eigenen Plan wirken.

Die gängige heutige Meinung ist dagegen, dass all diese Ansichten nur Hybris sind. Der Mensch ist demnach nur ein Tier wie jedes andere. Unterschiede zu anderen Tieren sind nur graduell - und nur nach zähen Diskussionen überhaupt zuzugestehen. Der frevelhafte Mensch, so geht es weiter, ist in die Theorie verliebt, er sei "die Krone der Schöpfung". In diesem bösen Frevel, im Wahnglauben, er sei etwas Besseres, hat er sich brutal die ganze Welt angeeignet. Wenn wir nicht – so denkt man heute – ganz schnell von diesem Glauben ablassen und zerknirscht Busse tun, wird es ganz schlimm mit uns enden. Die Ähnlichkeit mit den religiösen Vorstellungen der Büsser von der nahe bevorstehenden Strafe für den menschlichen "Sündenstolz" ist kein Zufall. Wir finden den gleichen Kern auch in den Narrativen von den Kreuzzügen[6], den Kolonialisten und den edlen Wilden, den Imperialisten und den ausgebeuteten Völkern des Südens.

Schon dass hier immer der gleiche, einfache Topos zugrundeliegt, sollte uns misstrauisch machen. All diese Konstruktionen bedienen vor allem ein psychologisches Bedürfnis, dem die Fakten dann untergeordnet werden. Und so wie Lügen kurze Beine haben, werden auch diese Konstruktionen notwendig in sich zusammenfallen. Je eher das passiert, desto weniger Schaden werden sie noch anrichten.

Was den Unterschied des Menschen vom Tier angeht, so muss man schon die Augen sehr fest verschliessen, um die Freiheit des Willens nicht zu sehen, die zu unseren unmittelbaren Erfahrungen als Mensch gehört.

Es spielt eine Rolle, wie wir über die Welt denken

Nach fast 200 Jahren ist die materialistische Philosophie zum Gemeinplatz geworden. "Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein", lehrte Marx. Wie wir über die Welt denken, hängt vom Füllungsgrad unseres Magens ab.[4] Nur der Füllungsgrad des Magens ist das hard fact, das es zu beachten gilt – das Reich der Ideen, des Geistes, ist nur ein luftig-leichter Reflex, ähnlich unseren Träumen.

Menschen, die die Welt wirklich vorangebracht haben – Erfinder, Entwickler neuer Technologien, grosse Naturwissenschaftler – wissen es besser: Ideen sind keine Überbauphänomene, sondern haben eine grosse Kraft! Es spielt eine Rolle, wie wir über die Welt denken. Je richtiger unser Bild von der Welt ist, umso besser können wir die Welt zu unserem Vorteil nutzen und gestalten. Den Erfinder treibt eine Idee an - nicht sein leerer Magen. Er will eigene Ideen, einen eigenen Plan in der physischen Welt Gestalt werden lassen.

Gesunde, aufbauende Ideen wirken anders als lebensfeindliche, in sich widersprüchliche, letztlich destruktive Ideen. Eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder
  • nur als tumbe Massenwesen ansieht, die vom Staat auf den richtigen Weg geführt werden müssen, damit sie nicht zum Opfer der Manipulation durch böse Kräfte wie z.B. grosse Konzerne werden,
  • oder eben nur als rein triebbestimmte Tiere ohne eigene Impulse, ohne freien Willen,
wird eine andere politische Praxis entwickeln als eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder als freie, schöpferische Menschen ansieht und zum Genuss ihres Lebens nach eigenen, selbstgesetzten Zielen einlädt.

Der Glaube,
  • es sei egal, wie wir über die Welt denken,
  • man könne ja sowieso nichts genau wissen (ein Satz, den manche zu Unrecht Sokrates unterstellen: οἶδα οὐκ εἰδώς),
  • zu jeder These gebe es eine Antithese,
  • der Verstand diene nur dazu, unsere Triebe zu rechtfertigen,
  • nur das Gefühl gebe einem den rechten Zugang zur Welt,
  • usw.,
ist im Kern immer Nihilismus. Der Mensch wird seiner höchsten eigenen Wesenskraft beraubt, seines Überlebensinstruments: des Denkens. Ohne zu denken, kann man sich keine bewussten Zwecke setzen, sein Leben nicht selbst gestalten, nichts Sinnvolles aus ihm machen - man könnte ohne Almosen von anderen nicht einmal überleben. Warum aber einer Philosophie anhängen, die uns dem Tod ausliefert - und dies noch zum Ideal erheben?

Der Kollektivismus als Gefahr für die Menschen

Ohne in einem übersteigerten Individualismus alle Forderungen und Opfer abzulehnen, die die eigene Gemeinschaft einem abverlangt, so kann die Gemeinschaft im Kollektivismus doch auf eine ungesunde Weise übergriffig werden. Der Kollektivismus ist daran zu erkennen, dass er den Wert des einzelnen als Wert in sich ablehnt. Der einzelne ist ausschließlich im gesellschaftlichen Zusammenhang etwas wert, und seine Rolle in der Gemeinschaft wird ihm von weisen Führungsfiguren zugewiesen, die herausgefunden haben, wie man die paradiesische Neue Welt und den Neuen Menschen schafft. Als kranke, ungesunde Entartung einer an sich richtigen Form von Gemeinschaftlichkeit ist er daran zu erkennen, dass er selbst eine utopische Form von Sozialität pflegt, in der alles einer ersonnenen Idee untergeordnet wird. Du bist nichts, dein Volk ist alles., formulierten es die Nationalsozialisten. Das Problem ist hier nicht die Anerkennung, daß der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, sondern die Ausschließlichkeit dieses Anspruchs, die nichts anderes gelten läßt. Kollektivismus ist Ersatzreligion, in der statt Gottes die Gemeinschaft der Menschen angebetet wird.

Der Kollektivismus absolutiert das Gemeinwohl, macht daraus einen totalen Anspruch und füllt ihn neu mit der eigenen Ideologie aus. Der einzelne soll sich den Zielen der Gemeinschaft unterordnen, wie sie durch die jeweilige Ideologie von oben neu definiert werden. Als Gegenleistung erhält er einen Sinn (als läge nicht in Gott bereits der Sinn seines Lebens, als bedürfte er der Gemeinschaft, um ihn zu finden) und die Erlösung von der Bürde der Freiheit. Was das Gemeinwohl konkret ist, wer zur In-Gruppe gehört und wie man dort Mitglied wird, ist durch einen, je nach Ideologie unterschiedlichen Kodex geregelt. Ironischerweise ist es aber nie die historisch gewachsene Kodex, in den der Mensch von selbst hineingewachsen ist. Immer wird im Kollektivismus der Mensch von oben neu erschaffen, neu definiert.

Darin ist die Behauptung enthalten, der Mensch stelle keinen Wert für sich selbst dar, sondern sei überhaupt nur etwas, wenn er sich in den Dienst der großen zukunftsträchtigen Ideologie stelle, als Element eines größeren Wesens – eines Volkes, der Umma, der Menschheit – und diesem größeren Wesen allein komme der Wert zu. Die Behauptung ist verlockend, denn der Mensch ist auf das Unendliche hin angelegt, er hat natürlicherweise diese Sehnsucht. Aber diese Sehnsucht ist etwas, die von ihrer Natur her nicht nach der Gemeinschaft verlangt, sondern alles Irdische transzendiert. Sie beginnt im einzelnen Menschen, im notwendig einsamen Erlebnis seiner selbst. Ob man auf einer einsamen Insel für sein Überleben sorgt, indem man sich eine Hütte baut und etwas anpflanzt, oder in einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft inmitten von Tausenden anderen Menschen seinen Weg geht: das Empfinden der Einsamkeit gehört zu unseren menschlichen Grundverfasstheiten. Ich hatte dies schon in meinem Blog Über die Einsamkeit beschrieben. Einsamkeit gehört ebenso zu unserem menschlichen Wesen wie die natürliche Zugehörigkeit zu der vorgefundenen Gemeinschaft. Die Frage nach dem Sinn gehört in die religiöse Sphäre, es ist der Ruf nach Gott – er ist weder in der blossen Ichheit noch in der vorgefundenen Gemeinschaft zu finden, sondern in der Hingabe an Gott.

Wer nur der Kuschelwärme irgendeines ideologischen Vereins folgt, findet statt seiner wahren Bestimmung oft nur einen trügerischen Sinn. Und will dann, je unwahrhaftiger dieser Sinn ist, ihn umso mehr auf der äußerlichen Ebene verbreiten und ihn anderen Menschen aufzwingen. Der Übergang zum Kollektivismus vollzieht sich schleichend und oft unbemerkt. Die Gemeinschaft ist bald nur noch die eigene Gruppe: der nationalsozialistisch neu definierte Volkskörper, das Proletariat, die islamische Umma – und wer nicht dazugehört und sich auch nach Aufklärung über die Gruppen-Wahrheiten nicht zu diesen bekehren will, ist je nach gewählter Ideologie minderwertig oder ein nicht existenzberechtigter Kafir. Auf jeden Fall sind besondere Massnahmen gegen solche störenden Subjekte sinnvoll - auch ihre Ermordung im Dienste der grossen Sache wäre nicht so schlimm, "man muss das im Kontext sehen", "man bedenke, welchen schlimmen Schaden sie angerichtet hätten, hätte man sie gewähren lassen" usw.[7]

Mit Gewalt können sich grosse Zwangsgemeinschaften herausbilden, deren Mitglieder, ihres eigentlichen Werts und ihrer Würde als Menschen beraubt, nur als Rädchen im Getriebe einer Ordnung zu funktionieren haben, die sich irgendein Sozial-Ingenieur ausgedacht hat. Einige dieser Zwangsgemeinschaften legitimieren ihren politischen Herrschaftsanspruch aus Offenbarungen einer religiösen Irrlehre (wie dem Koran) - andere berufen sich auf soziale Verpflichtungen, auf Solidarität, Altruismus oder auch auf pseudowissenschaftliche "historische Gesetzmässigkeiten": "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf", wie es Genosse Erich Honecker so schön doof formulierte[5].

Doch nun zu einigen Punkten des Buchs, die mir nicht so gut gefallen haben.

Der Stil

Stil ist Geschmackssache, und andere mögen das anders empfinden. Atlas Shrugged hat in der mir vorliegenden englischen Taschenbuchausgabe 1'059 Seiten. Das Buch ist zweifellos spannend, sonst hätte ich es irgendwann unterwegs beiseitegelegt. Aber Ayn Rand schreibt manchmal in einer überdeutlichen Weise, wie um sicherzugehen, dass ihre Botschaft auch wirklich bei jedem Leser ankommt - und streckenweise ist das Buch langatmig und repetitiv. Die vielgepriesene 56seitige Rede von John Galt, die als Herzstück des Buches angesehen wird, leidet besonders unter dieser Langatmigkeit. Darüberhinaus werden Strohmänner aufgebaut: Die Lehren und Ansichten, gegen die John Galt spricht, werden zu grossen Teilen von niemandem vertreten - aber es ist natürlich einfach, sie zu widerlegen.

Der Antagonismus Gefühl - Verstand

Das ist ein Beispiel von vielen: Ayn Rand baut einen Gegensatz zwischen dem rationalen und dem gefühlsorientierten Menschen auf. Das Handeln solle im rationalen Eigeninteresse erfolgen, nicht auf Basis von Gefühlen wie Liebe oder Opfermut. Auch die Liebe stellt sie auf eine rationale Basis: Man kann schliesslich nicht jeden ohne Ansehen der Person lieben, sondern der andere muss in irgendeiner Weise meiner Liebe würdig sein, so wie ich seiner Liebe.

Aber ist es möglich, diese beiden Wesensteile des Menschen - sein Gefühl und sein Denken - so gegenüberzustellen? Gefühle wie Ahnungen oder Intuitionen, ergänzen doch, was ich als Denkender herausfinde. Zum Beispiel die Ahnung: Es wäre in vielen Fällen mangels Zeit gar nicht möglich, eine Entscheidung zu treffen, wenn ich alle Alternativen gründlich und rational überprüfen müsste. Hier hilft mir die Ahnung bei der Entscheidungsfindung. Ein reines Gefühl.

Ausserdem hat das Gefühl für das Individuum einen anderen Stellenwert als für die Gesellschaft. Man kann das Private und das Politische nicht über einen Kamm scheren. Es ist unmöglich, Dinge wie Opferbereitschaft oder Nächstenliebe staatlich zu verordnen oder zu organisieren. Was aber für den Staat falsch ist, kann für den einzelnen Menschen dennoch richtig sein.

Ayn Rands Religionskritik

Was ist Ayn Rands Bild der Religion?

Religiöse Menschen sind für sie - als mystics of the spirit - nur Geschwister der mystics of the body, der Kommunisten. Mystiker sind beide, indem sie die lebendige Wirklichkeit, in der der Mensch lebt, seine Fähigkeiten, seine Leistungen, sein Handeln im rationalen Eigeninteresse, herabsetzen und verachten. Religiöse Menschen werfen sich transzendenten Mächten an den Hals - aus Angst, aus Faulheit oder aus der Unfähigkeit, für ihr eigenes Leben zu sorgen. Religion verneint und verachtet das Leben, das sie zum "Diesseits", zur unvollkommenen Welt degradiert, und erfindet stattdessen das Jenseits: eine von Fehlern bereinigte phantastische Kopie des Diesseits. Religion verachtet die menschliche Vernunft und denunziert rationales Handeln als kalt und egoistisch. Stattdessen fordert sie eine auf Gefühlen wie Liebe und Mitleid basierende Ethik. Mit unerfüllbaren Aufgaben - wie dem, alle Menschen ohne Ansehen ihrer Person zu lieben - und mit dem Erbsünde-Mythos pflanzt sie Schuld und schlechtes Gewissen in die Seele. Denn Seelen, die sich permanent schuldig, unzulänglich und klein fühlen, werden daran gehindert, ihr Potential zu erschliessen.

Diese - teilweise sehr alte - Kritik geht an den wesentlichen Punkten der Religion vorbei, ja berührt sie noch nicht einmal. Das Bild der Religion, das sie bekämpft, ist bereits zum Bekämpfen zurechtgemacht.

Das wesentliche Thema der Religion ist Gott - der transzendente Urgrund der Welt. Für den religiösen Menschen gründet alles in Gott, er ist die Antwort auf die Frage warum überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts. In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir. (Apg. 17,28), auf ihn hin ist alles geschaffen (Kol. 1,16).

Es ist schön und wichtig, sich ganz in die Welt hineinzubegeben, sie ganz zu bejahen und als Handelnder in ihr zu wirken. Der religiöse Mensch aber ist sich bewusst, dass das nicht alles ist: dass die Welt nach oben offen ist. So ernst er alles nimmt, was er tut, so relativiert er es doch zugleich, indem er es sub specie aeternitatis ansieht. Diese Anschauung führt zu Gelassenheit und nimmt seinem Tun etwas von der Verkrampftheit und Besessenheit, die es ansonsten oft hätte.

Ein Mensch, der sagen würde "Ich tue nichts, weil ich so ein kleines, unwürdiges Geschöpf bin und all mein Tun sowieso sinnlos ist", würde dieses Bewusstsein von der Transzendenz nur als billige Ausrede benutzen. Mit Religion hat eine solche Haltung nichts zu tun, sie ist nur ein Missbrauch.

Dass unsere Welt nach oben offen ist, daß alles Wahre, Gute und Schöne in dem einen Gott mündet, ist etwas, worauf uns das Denken und die Weltbetrachtung hinführen und das niemand widerlegen kann. Ich sehe auch nicht, inwiefern man die religiöse Haltung in Widerspruch zu unserer Vernunft, zu rationalem oder schöpferischem Handeln setzen kann. Der Widerspruch ist von Ayn Rand konstruiert, er existiert nicht wirklich, sondern dient dazu, ihre Argumentation zu vereinfachen.

Auch die weiteren Argumente betreffen nicht wirklich die Religion.

Zwar gibt es stark am Diesseits orientierte Darstellungen des Jenseits, vielleicht sind manche darunter wirklich erfunden. Aber angenommen, das Jenseits existierte (und niemand kann das widerlegen, aber andererseits gibt es Mystiker, die davon berichten), und es wäre ganz anders als das Diesseits: Wie sollte jemand, der es erlebt hat, es jemandem beschreiben, der dieses andere nicht kennt? Wird er nicht notwendig auf Begriffe aus der diesseitigen Welt zurückgreifen müssen? Und sich damit zwangsläufig den Vorwurf einhandeln, er plagiiere nur und erdichte ein luftiges, idealisiertes Diesseits?

Ähnlich ist es mit dem Erbsünde-Mythos. Um seinen wahren Gehalt zu ahnen, erfordert es ein Minimum an Bereitschaft, sich überhaupt auf die religiöse Haltung einzulassen. Wird diese nicht geteilt, ist es sinnlos, argumentativ darüber die Klingen zu kreuzen. Nach meinem Verständnis geht es bei der Erbsünde nicht um einen billigen "guilt trip" oder Herrschaftstrick - die Menschen sollen nicht kollektiv schuldig gesprochen werden, sondern es geht um eine Beschreibung des Zustands der Welt, wie sie sich dem religiösen Empfinden darbietet: Als aus ihrem ursprünglichen, heilen = heiligen Zustand herausgefallen. Die Welt, wie sie uns umgibt, ist nicht die Welt, wie sie einmal gemeint war - auch wenn alles, was darin ist, noch auf diesen Ursprung hin orientiert ist. Das ist gemeint, wenn im Römerbrief vom ängstlichen Harren der Kreatur die Rede ist, die auf die Offenbarung der Kinder Gottes wartet (Röm. 8,19).

Ernster ist schon der Vorwurf von der unerfüllbaren Ethik. Wirklich glaube ich, dass eine Glaubensgemeinschaft, deren sämtliche Mitglieder ihre Feinde liebten und stets die andere Backe hinhielten, keine 100 Jahre existieren würde. Die Ethik der Bergpredigt ist als Grundlage für eine ganze Gesellschaft nicht geeignet. Sie war aber auch nicht so gemeint. Im Zusammenhang gelesen, hat die Antithetik der Bergpredigt offensichtlich den Zweck, das Ungenügen all unseres Tuns vor dem unendlichen, ewigen, allgerechten und allguten Gott zu zeigen. Jesus hat uns keine Gesellschaftsordnung hinterlassen. In den ersten Gemeinden waren die verschiedensten Berufe vertreten, unter anderem auch Soldaten (etwa der Hauptmann von Kaphernaum), die unmöglich ihren Dienst mit einer absoluten Feindesliebe vereinbaren könnten. Es ist nicht bekannt, daß Jesus von ihm verlangt hätte, seinen Beruf aufzugeben. Die Bergpredigt ruft uns heraus, will die Maßstäbe geraderücken. Aber auch hier gilt die erwähnte "Offenheit nach oben": ihr Anspruch ist nach oben offen. Niemand fühle sich gehindert, sie so ernst und wörtlich zu nehmen, wie er kann. Wer je eine Heiligenvita gelesen hat - man lese nur einmal die einfühlsamen Schilderungen des Kirchengeschichtlers Walter Nigg [8] - der weiss nicht nur, dass der Vorwurf des Schmarotzertums oder Betrugs auf diese Menschen absolut unanwendbar ist, sondern auch, dass sie aus allen gewöhnlichen menschlichen Kategorien herausfallen. Es ist auf jeden Fall unangebracht und sinnlos, das Leben dieser Ausnahmemenschen mit einer Diskussion über eine für eine ganze Gesellschaft tragfähige Ethik zu vermischen. Das höchste Ziel des Christen ist nicht die Erhaltung irgendeiner Gesellschaftsordnung, sondern Gott.

Fazit

Die vielen interessanten Details dieses Buches zu diskutieren, würde den Rahmen eines Blogbeitrags sprengen. Schon was ich hier diskutiert habe, gibt genug zu kauen! Auf jeden Fall ist Atlas Shrugged ein anregendes und interessantes Buch, das ich allen zur Lektüre empfehlen kann, die dem in Europa allmächtigen Ruf nach staatlicher Hilfe und Rettung, nach staatlichen Zuschüssen, staatlicher Kontrolle, staatlich gelenkter "Fürsorge" - kombiniert mit der allgegenwärtigen Schelte auf die Reichen und Erfolgreichen (die man aber doch zur Finanzierung der ganzen Vorhaben benötigt) - mit tiefster Ablehnung gegenüberstehen. Man kann frisch durchatmen nach Lektüre des Buches - in dem Wissen, dass man die Dinge auch richtiger, vernünftiger, wirklichkeitsgemässer sehen kann. Dass es eine Alternative zum herrschenden etatistischen Wahn gibt.

[1] http://www.youtube.com/watch?v=YKjPI6no5ng, von mir selbst ins Deutsche übersetzt.
[2] Die Abbildung stammt aus http://capitolcommentary.com/2012/07/18/the-best-of-obamas-you-didnt-build-that/
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Life,_liberty_and_the_pursuit_of_happiness
[4] Auch hier wirkt übrigens wieder das gleiche Schema vom Sündenstolz / der Unbussfertigkeit: Wessen Bauch voll ist, der soll sich etwas schämen, solange es noch Menschen gibt, deren Bauch nicht so voll ist. Allgemeiner: Wer mehr hat, soll sich seines Besitzes schämen, solange es Menschen gibt, die weniger haben. Der Volksmund hat dies schon immer veräppelt: Wer zwei Hosen hat und sieht einen, der nur eine hat, dem gebe er eine, damit auch er zwei hat.
[5] Honecker, Erich. Rede am 14.8.1989 vor dem Erfurter Kombinat Mikroelektronik.
[6] Zum Kreuzzugs-Narrativ vgl. das interessante Interview mit dem französischen Philosophen Rémi Brague Das islamische Volk ist das Belogenste sowie eine faktische Darstellung ihrer Voraussetzungen bei Michael Mannheimer: Was uns Historiker und der Islam über die Kreuzzüge verschweigen. Die propagandistische Nutzung und Wirkung dieses Narrativs beschreibt Robert Spencer in The Crusades, Fact & Truth , einem sehr informativen Referat auf einer Tagung der International Free Press Society (Lars Hedegard).
[7] Im Islam ist ein Kafir (Plural Kuffar), wer sich dagegen sträubt, die Wahrheiten des Islam anzuerkennen - er tut dies natürlich aus niederen Motiven, anders geht es gar nicht. Gemäss Sure 8:55 ist ein Kafir schlimmer als das Vieh. Also ist es eher nützlich als schädlich, ihn totzuschlagen - und so wurde es auch praktiziert. In der Geschichte des Islam wurden etwa 270 Millionen Kuffar totgeschlagen. Michael Mannheimer zeigt in seinem Blog Die gefeierten Genozide der Sozialisten und Kommunisten die Parallelen in Theorie und Praxis des Sozialismus.
[8] Nigg, Walter. Grosse Heilige, Artemis-Verlag, Zürich 1947. (als Taschenbuch bei Diogenes, Zürich 1993).

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